Ganz, ganz tolle Menschen – Die „Tafel“ Diez versorgt derzeit 111 Haushalte – auch mit Huth-Backwaren

Ganz, ganz tolle Menschen
Diabetiker, Vegetarier oder Muslim? Die entsprechenden Ernährungsgewohnheiten werden beim Befüllen der Körbe berücksichtigt.

Die Bäcker und Konditoren haben eben Feierabend gemacht, die Backstube am Schlag in Limburg vor gut einer Stunde verlassen. Obwohl: Feier-„Abend“ stimmt nur bedingt, es ist Morgen. Kurz vor acht, und da kommt das weiße Auto der „Tafel“ Diez auf den Hof des echten Bäckers gefahren. „Wir holen hier zweimal in der Woche Backwaren ab, die uns gespendet werden von der Bäckerei Huth“, erklärt Rita Meyer. Sie ist die Fahrdienstleiterin der „Tafel“, und gemeinsam mit ihrem Kollegen Hans Becker beginnt sie ihre „Schicht“ gerade erst, während die Bäcker nach getaner Arbeit daheim in den Schlaf sinken.

„Ich habe in meinem Berufsleben so viel von den Leuten bekommen, ich will etwas zurückgeben“, sagt Hans Becker, während er aus der Backstube einige „Rollis“ mit huthorangen Körben herausfährt, in denen Brote, Brötchen und Kuchen für Bedürftige sind. Berufsfeuerwehrmann sei er gewesen, fügt Becker an, und dass er sich das Ehrenamt bei der „Tafel“ nach dem Rentenbeginn bewusst ausgesucht habe. Bei Rita Meyer ist die Motivation ähnlich gewesen: die Kinder eines Tages aus dem Haus, plötzlich hatte sie mehr Zeit. Die wollte sie sinnvoll nutzen. Oft kommen nach ihrer Schilderung Menschen, die gerade das Rentnerdasein angefangen haben: „Bei euch gibt es doch was zu tun…“

So wie Becker und Meyer sind insgesamt 55 Ehrenamtliche im Schnitt ein- bis zweimal monatlich zur Stelle, um die Arbeit der „Tafel“ zu erledigen. Jeden Dienstag, Mittwoch und Donnerstag sammelt deren Fahrdienst gespendete Lebensmittel ein – Brote vom Vortag, Milchprodukte gegen Ende der Haltbarkeitsdauer, Gemüse, das den heute überzogenen Verbrauchererwartungen optisch nicht mehr ganz entspricht, sonst aber top ist. „Wir sind die Tafel, nicht die Müllabfuhr“, betont Rita Meyer.

Insgesamt 16 Super- und Discountmärkte steuern sie und ihre Kollegen an, drei Bäckereien, eine Tankstelle. Heute stehen auf dem Tourenplan von Rita Meyer und Hans Becker nach dem Start an der Meisterbackstube Huth alleine neun Märkte. Vor 14 Uhr liefert der Fahrdienst all die Gaben im „Tafel-Laden“ in Diez ab. Dort steht der Sortierdienst schon bereit und beginnt seine Arbeit ab zehn Uhr. „Wir haben uns für das Korbsystem entschieden“, erläutert Oliver Krebs. Der Sozialarbeiter der des Diakonischen Werkes Rhein- Lahn, Außenstelle Diez, ist der einzige Hauptamtliche hier. Das Korbsystem sorge für Gerechtigkeit: Die Bedürftigen – bei der „Tafel“ werden sie Kunden genannt – bekommen feste Termine zugewiesen. Zu diesen treten sie einzeln in den „Tafel-Laden“ ein und erhalten den vorbereiteten Inhalt ihres mit Namensschild gekennzeichneten Korbes. Angaben, ob es sich um einen einzelnen Kunden, zwei Erwachsene im Haushalt oder eine Großfamilie handelt, sind zudem notiert. Was der Sortierdienst ebenso berücksichtigt wie den inzwischen an fast jedem zweiten Korb zu findenen Hinweis, dass auf Schwein verzichtet werden solle. Die im Fünf-Minuten-Raster vergebenen Termine einzuhalten, pünktlich in der Diezer Gartenstraße aufzutauchen, ist Pflicht. Wer sie dreimal versäumt, wird von der Kunden-Liste gestrichen und muss sich neu dafür bewerben.

Rotation

Ganz, ganz tolle Menschen3
Oliver Krebs wirft einen Blick in den Kühlschrank. Es gibt Milchprodukte für alle Kunden.

Das kann dauern: 111 Haushalte versorgt die die Organisation derzeit, anfangs waren es gerade einmal 20. „Es gibt noch mehr Bedarf“, schildert Oliver Krebs, „aber mehr können wir nicht bewältigen.“ Damit von den Interessenten auf der Warteliste (derzeit sind es 44), deren Bedürftigkeit vorab schon geprüft wurde, überhaupt jemand ein Chance zum Nachrücken hat, gilt ein Rotationsprinzip: Nach einem Jahr läuft die Bezugsberechtigung ab, man muss über die bewusste Warteliste erneut ins System hineinkommen. „Die Wartezeit beträgt im Schnitt drei Monate, um einen Tafel-Platz zu bekommen“, sagt Krebs. Allerdings gebe es „Not-Körbe“, die nebenher ausgegeben werden könnten.

Am Anfang war er von der Tafel-Idee nicht begeistert, das gesteht der Sozialarbeiter. Doch heute, elf Jahre nach deren Gründung in Diez, sieht er das anders:„Wir bewahren Lebensmittel vor der Vernichtung und geben sie Menschen, die sie brauchen – so falsch kann das doch nicht sein.“ Auch, dass bei der „Tafel“ „ganz, ganz tolle Menschen“ aktiv seien, sei großartig zu sehen. „Und dass diese gemeinsame Hilfe zu etwas führt.“ Offenbar kann Oliver Krebs der „Tafel“-Arbeit inzwischen eine Menge Positives abgewinnen. Er ergänzt, dass ihn die große Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft freue – nicht allein, was die Ehrenamtler angeht, sondern ebenso die Spender der Lebensmittel: „Das finde ich überwältigend!“ Kunden der „Tafel“ zahlen zwei Euro je Erwachsenem, Kinder sind frei. Die Kunden sollen das Gefühl bewahren können, einzukaufen, nicht von Almosen zu leben und ihren Beitrag für ihre Ernährung selbst zu leisten. Daneben seien die zwei Euro auch eine Unterstützung der Tafel- Arbeit.

Ganz, ganz tolle Menschen2
Brigitte Bormann sortiert das Obst vor, verteilt möglichst gleichmäßig etwas auf jeden Korb.

„Heute wird es gut“, freut sich Hannelore Keiling. Gemeinsam mit Brigitte Bormann und der heute zum ersten Mal helfenden Manuela Panje hat sie sortiert, was Fahrdienstleiterin Rita Meyer und Ex-Feuerwehrmann Hans Becker in Limburg, Diez oder Hahnstätten eingesammelt haben. Die Regale im „Tafel-Laden“ sind nicht zum Bersten, jedoch ansehnlich gefüllt. Die Kühlschränke sind es ebenso, es gibt ausreichend Lebensmittel zu verteilen. Man müsse immer mit dem klarkommen, was da ist, betont Keiling. „Manches Mal bekommen wir nicht so viel zusammen.“

Der „Tafel-Laden „hat seine Heimstatt ausgerechnet in einer ehemaligen Bäckereifiliale gefunden! Teile der damaligen Ladeneinrichtung nutzen die Ehrenamtler heute. Der Umgangston ist herzlich, alle duzen sich, sind auffallend ausgelassen „Man kann so eine Aufgabe eigentlich nur erfüllen, wenn man positiv ist, Freude daran hat“, meint „Olli“ Oliver Krebs. Denn schließlich spiele sich vor den Augen der Helfer das ganze Leben ab. Krebs weiß, wovon er spricht. Die Diakonie bietet in Diez nicht allein die „Tafel“, sondern ebenso eine Kontakt- und Informationsstelle für psychisch kranke Menschen, Schwangeren- sowie allgemeine Lebensund Sozialberatung an, unterhält eine Schuldnerberatung. „Da sehe ich einen Vorteil drin, dass unsere Kunden diese Angebote direkt mitnutzen können“, unterstreicht Krebs.

Berechtigung

Ganz, ganz tolle Menschen5
Mohammad Nabi Nurzahi ist froh, dem Krieg in seiner Heimat entkommen zu sein.

Kommt jemand neu zu ihm, der sich gerne bei der „Tafel“ versorgen möchte, muss die Berechtigung dazu überprüft werden. Eine Sozialberatung steht oft am Anfang. „Manches Mal ist es einfach eine Schwangerschaft, dass ‚das Fass überläuft‘ und jemand nicht mehr klar kommt“, erzählt Krebs. „Unsere Kunden kommen aus allen Alters- und Gesellschaftsschichten. Es geht vom Ingenieur über Menschen, die regulär arbeiten gehen, aber dennoch nicht rundkommen, bis zu Alten und Kranken.“ Zwischenzeitlich hat die Diakonie in Bad Ems und Nastätten ebenfalls „Tafeln“ eröffnet. „Armut ist ein Schwerpunkt unserer Arbeit geworden“, berichtet Oliver Krebs. Zwei einschneidende Faktoren hätten sich ausgewirkt, seit die „Tafel“ in Diez gestartet wurde: „Als die Flüchtlinge kamen, haben wir schon eine Zunahme bemerkt. Aber gerade auch mit den gesamten Hartz-Reformen – es gab ja nicht nur ‚Hartz-IV‘ – entstanden für viele Menschen Engpässe.“

Je länger der Diakonie-Mitarbeiter über die „Tafel“ spricht, desto mehr Vorteile weiß der anfangs Skeptische auszumachen. Ein großer sei, dass man auf die real vorhandene Armut aufmerksam mache, hebt Krebs hervor, der staatlich anerkannter Diplom-Sozialarbeiter, Koordinator der „Tafel“ und Gemeindepädagoge ist. „Man darf ja beim Armutsbegriff nicht vergessen: Es geht nicht allein ums Sattwerden, sondern ebenso um Teilhabe in einer Gesellschaft wie der unseren; es geht auch darum, sich mal ein Kleidungsstück oder einen Kinobesuch zu leisten.“ Früher habe man öfter mit Leuten reden können, wenn Bedürftige (finanzielle) Verpflichtungen nicht mehr erfüllen konnten. „Heute wollen alle sofort den vollen Betrag für eine offene Stromrechnung oder Ähnliches, lassen sich auf Abschläge nicht mehr ein, und der Anwalt hat sein Honorar schon aufgeschlagen!“ Dass das Miteinander rücksichtsloser geworden sei, „das fällt in der Beratungstätigkeit auf.“

Während Oliver Krebs das alles ausführt, haben Veronika Bartels und eine Kollegin, die es vorzieht, ungenannt zu bleiben, mit der Ausgabe begonnen. Frau Sapregaev ist an der Reihe. Sie kam 2000 als „Russlanddeutsche“ aus Kasachstan in die Bundesrepublik, ist heute 78 Jahre alt. Ihr Mann, klagt sie, sei 80, „Russ, praktisch blind und bekommt keine Rente“. Ihre kleine reiche nicht für beide im Haushalt, darum gehe sie zur „Tafel“. Allerdings habe sie in ihren ersten Jahren in Deutschland auf dem Dorf gewohnt. „Da gab es so etwas nicht.“ Auch nach ihrem Umzug nach Diez habe es drei Jahre gedauert, ehe sie von der Einrichtung erfuhr, beschreibt Sapregaev, während sie Salat, Weintrauben und einen „Ring of Fire“ aus der Bäckerei Huth in ihre Taschen packt. Draußen vor der Tür wartet Mohammad Nabi Nurzahi auf seinen Ausgabetermin. Er ist seit 31. Juli 2015 in Deutschland, das Datum weiß er genau: „Deutschland ist sehr gut! Kein Krieg, kein Stress…“, und dann stockt dem jungen Mann für ein paar Sekunden die Stimme. Die „Tafel“ findet er großartig, den Umstand, dass fremde Menschen ihm helfen: „Ich bekomme wenig Geld – aber hier Brot und Obst für mein Kind“, freut sich der Zuwanderer. „Mein Kind ist drei Jahre und zwei Monate alt“, erzählt Mohammad Nabi Nurzahi, „es sagt jeden Tag: ‚Ich will essen, stark werden und dann in die Schule gehen!‘“

Arbeit

Ganz, ganz tolle Menschen4
Bei Veronika Bartels (links) ist nun Spätaussiedlerin Sapregaev an der Reihe und packt ein, was bereitgestellt wurde.

Eigentlich ist der vor den Bomben Geflohene Stuckateur. Er zeigt auf seinem Handy Fotos, eine große Sammlung eindrucksvoller Werke. „Die habe ich alle gemacht, in den letzten 15 Jahren, alle mit meinen Händen.“ Wie gerne würde er in seinem Beruf arbeiten! Er hat offenbar enorme Fähigkeiten, aber keine in Deutschland anerkannte Ausbildung. „Ich mache derzeit immer Praktika in Firmen und Restaurants, arbeite fünf Wochen umsonst, weil es heißt, danach bekäme ich einen Job. Aber nach fünf Wochen heißt es jedes Mal: ‚Wir haben keine Arbeit für dich.‘“ Schon nachvollziehbar, dass so etwas frustriert. Dennoch beklagt sich der Afghane nicht – im Gegenteil, er lobt sein Umfeld: „Für mich sind in Diez alle Leute gut!“ Auf die Möglichkeit, für seine Familie Essen über die Diakonie zu bekommen, hatte ihn ein Nachbar aufmerksam gemacht.

Traum

„Mein Traum ist, dass wir die ‚Tafel‘ irgendwann wieder abschaffen können – weil sie nicht mehr nötig wäre“, unterstreicht Oliver Krebs. Bis dahin scheint es noch ein weiter Weg zu sein, und so lange werden die Ehrenamtler weiter Backwaren der Bäckerei Huth abholen, sortieren und ausgeben. Vor der Tür des „Tafel-Ladens“ stehen bereits geduldig die nächsten vier Kunden. Sie warten, bis es Zeit für ihren Ausgabe-Termin ist und sie Gemüse aus dem Discount und Backwaren des echten Bäckers erhalten.