Auch ihre Mama ist stolz!

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Jurgita Noreikiene

Als einzige Frau in einem sonst reinen „Männerteam“ hilft Jurgita Noreikiene dabei, die Huth-Bäckereifachgeschäfte etwa mit „Junggesellenbrot“ oder „Pierres“ zu beliefern. Nacht für Nacht kommissioniert und verpackt sie routiniert die Ware, bringt diese anschließend auf ihrer „Tour“ zu den Läden, so dass für jeden Huth-Fan am Morgen das Frühstücks-„Hüthchen“ bereit liegt.
Die körperlich durchaus anspruchsvolle Arbeit stört die freundliche Litauerin dabei keineswegs. „Das ist schon in Ordnung. Ich versuche, nicht unbedingt gleich fünf Körbe mit ,Junggesellen‘ auf einmal hochzuheben“, scherzt sie. Die eingangs erwähnte anfängliche Abneigung gegen „große Autos“ hat die tüchtige Versandmitarbeiterin längst abgelegt. Und außerdem: Seit sie bei der Bäckerei Huth arbeite, habe sie privat überhaupt „keine Probleme mehr mit dem Rückwärtsfahren“, zwinkert die in Runkel lebende.

Schwierigkeiten zu meistern, sich Herausforderungen zu stellen – damit hat Jurgita Noreikiene einige Erfahrung. Gebürtig stammt sie aus der litauischen Stadt Rietavas, unweit der Ostsee gelegen. Vor 16 Jahren entschloss sie sich dort, ihrem Leben eine Wendung zu geben. Als alleinerziehende Mutter zweier kleiner Töchter hatte sie es nicht leicht, ihre beruflichen Lebensumstände in Litauen waren schwer. Dort war Noreikiene in einem Restaurant beschäftigt. „Ich war zuständig für den Ofen – die Heizung. Dann wurde ich gefragt, ob ich nicht auch noch in dem Lokal putzen könnte, also habe ich das ebenfalls angenommen. Denn es fehlte ja immer das Geld“, begründet Noreikiene, warum sie das „ungute Spiel“ mitmachte.

Ausbeutung
Doch bei den zwei Aufgaben sollte es nicht bleiben. Irgendwann habe die Chefin gewollt, dass Noreikiene zusätzlich als Bedienung sowie in der Küche tätig würde. Die Ausbeutung durch ihre Arbeitgeberin setzte der jungen Mutter immer mehr zu. Auch insgesamt wünschte sie sich die Möglichkeit, sich und ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Doch die Aussicht darauf war selbst mit Fleiß und harter Arbeit sehr gering. Da kam der Hinweis einer Freundin gelegen, die zuvor in Deutschland gearbeitet hatte. Jurgita Noreikiene folgte diesem Wink, gab ihre Stelle in dem Restaurant auf und ging nach Deutschland. Sie wollte zwei, vielleicht drei Jahre „mal gucken“, ob sie in dem fremden Land Arbeit finden, besser Geld verdienen könnte. Doch nicht nur, dass sie damit ein riesiges Wagnis einging, sie ließ auch schweren Herzens ihre zwei Töchter – damals gerade einmal Erst- und Zweitklässlerinnen – bei deren Oma zurück. „Ich wollte uns ein etwas besseres Leben aufbauen“, erzählt Noreikiene nachdenklich.
Arbeit fand sie unter anderem in Raunheim, wo sie in einer Gaststätte tätig war, oder in einem türkischen Lokal. „Meine türkischen Kollegen haben mich dann im Deutschen unterrichtet“, schmunzelt Jurgita Noreikiene. Überhaupt, sie habe hierzulande viele Spracheinflüsse kennenlernen dürfen, war zum Beispiel auch in einem griechischen und einem italienischen Restaurant tätig. Irgendwann habe sie sich in der neuen Heimat so wohl gefühlt, dass sie entschied, ihre Töchter nachzuholen und mit ihren Mädchen endgültig in Deutschland sesshaft zu werden.

Spedition
Mit ihren Kindern ließ sich Jurgita Noreikiene schließlich in Wiesbaden nieder. In Darmstadt nahm sie eine Stelle bei einer Spedition an, war dort für Kommissionierung und Verpackung zuständig. Die Pendelei zwischen Wohn- und Arbeitsort störte sie damals nicht. Dies änderte sich erst, als die Litauerin ihren aus Elz stammenden Lebensgefährten kennenlernte und mit ihm ins Nassauer Land zog. Von dort täglich nach Darmstadt zu fahren, war für Noreikiene dann doch zu aufwändig. Als sie erfuhr, dass in der Bäckerei Huth noch jemand für den Versand gebraucht würde, versuchte die Wahlhessin ihr Glück und wurde mit ihrem heutigen Posten belohnt. Endlich war sie „angekommen“. Ihr Arbeitsplatz in dem Traditionsbetrieb ermögliche ihr nicht nur die ersehnte wirtschaftliche Stabilität, sondern bereite ihr zudem große Freude, betont Noreikiene: „Da gibt es alles für mich. Ich bin zufrieden.“

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Zupacken gehört auch dazu.

Den für ihre Tätigkeit unerlässlichen Führerschein, ergänzt die Transporterfahrerin, habe sie übrigens erst in Deutschland gemacht, ein weiterer persönlicher Erfolg. Mit dem wollte sie dereinst gleich ihre Mutter überraschen. „Die wusste nämlich von gar nichts.“ Um der Mama eine Freude zu machen, beschloss die willensstarke Noreikiene, gemeinsam mit der jüngsten Tochter im Auto nach Litauen zu reisen. Doch ist eine solch lange, abenteuerliche Fahrt von der neuen in die alte Heimat gar nicht so leicht zu bewältigen. Noch dazu, wenn das Navigationssystem einen auf die falsche Fährte bringt: Noreikiene verfuhr sich, und das nicht zu knapp: „Wir haben 600 Kilometer Umweg durch Russland gemacht“, lacht sie. Aber die Mühe lohnte sich, denn endlich angekommen, gelang die Überraschung für die Mama. Die sei natürlich völlig überwältigt und gerührt gewesen von dem Erfolg der Tochter in Hessen. „Sie ist sehr stolz auf mich und auf das, was ich geschafft habe“, lächelt Jurgita Noreikiene.

Familie
Heute liegen die schweren Zeiten endgültig hinter ihr. Mit ihrem Zukünftigen lebt Jurgita Noreikiene in Runkel. Aus ihren kleinen Mädchen sind mittlerweile erwachsene Frauen geworden. Beide haben in Deutschland erfolgreich ihre Ausbildungen absolviert, sich ebenso wie die Mutter etwas aufgebaut. Die „Große“ sei Hautarzt-, die „Kleine“ Zahnarzthelferin, erzählt die Huth-Mitarbeiterin. Inzwischen ist sie sogar Großmutter. Wenn sie nicht die Bäckereifachgeschäfte des echten Bäckers Huth beliefert, verbringt sie viel Zeit mit ihrer Familie.
Harmonie mag die Litauerin beruflich wie privat. Erfreulicherweise habe sie in Deutschland nie Ausgrenzung oder Ablehnung erfahren, ihren mutigen Schritt, die Heimat zu verlassen, daher bis heute nicht bereut. In Hessen sei sie tatsächlich immer nur „netten Leuten“ begegnet. Vielleicht, sinniert Jurgita Noreikiene, sei das sogar der Grund, warum sie geblieben ist. „Weil ich überall angenommen wurde.“
Andra de Wit