Rund um den eigenen Kirchturm

„Aus 100 Kilo Getreide bekommen wir im besten Fall etwa 79 Kilo Mehl“, erläutert Obermüller Dirk Groh dem Meisterbäcker Dominique Huth.
„Aus 100 Kilo Getreide bekommen wir im besten Fall etwa 79 Kilo Mehl“, erläutert Obermüller Dirk Groh dem Meisterbäcker Dominique Huth.

In der Kilianstädtermühle entsteht das Mehl für die Bäckerei Huth aus regionalem Getreide

Beim echten Bäcker Huth kommen fast alle Rohstoffe aus der Region, dem Nassauer Land. So auch unser Mehl, das wir mit Wissen und viel Zeit in aromatische Brote und knackige Brötchen verwandeln. Begleitet uns heute auf unserem Ausflug zur Kilianstädtermühle in Schöneck im Main-Kinzig-Kreis, von der wir unser Mehl beziehen.

Es ist wahrhaftig eine staubige Angelegenheit: Wenn Landwirte wie Karsten Gritsch ihr Getreide an der Kilianstädtermühle in Schöneck abladen und die Körner vom Anhänger durch einen Rost in den Schacht im Boden vor den Silos rieseln, sind Trecker und Anhänger für einige Augenblicke kaum zu sehen. Gritsch bewirtschaftet seinen Hof im nahen Eschborn. Und so, wie seine Ähren direkt in der Region wachsen, stammt das Getreide aus heimischem Anbau, das die Müller hier im Main-Kinzig-Kreis zu Mehl verarbeiten – zu Mehl, das mit Wissen und viel Zeit in der Backstube des echten Bäckers in Limburg zu aromatischen Broten und knackigen Brötchen wird.

Mehltradition seit mehr als 600 Jahren

„Sechshundert lange Jahre stund die Mühle hier in diesem Grund. Gott half bei Sonnenschein und Not. Er geb‘ auch ferner Mehl und Brot“, ist auf einem Querbalken des historischen Verwaltungsgebäudes der Kilianstädtermühle zu lesen. Auf deren lange Geschichte weist zudem ihre Lage direkt an der Nidder hin. Von diesem im Vogelsberg entspringenden Nebenflüsschen der bekannteren Nidda wurde einst der Mühlgraben abgezweigt, der noch heute direkt unter der Kilianstädtermühle hindurchfließt und zuletzt einen Generator antrieb. Wenngleich der Mühle Walzenstühle selbstverständlich inzwischen elektrisch und nicht mehr von Wasserkraft angetrieben werden, so deutet doch auch der spezielle Platz auf eine jahrhundertelange Tradition des Müllerhandwerks hier im Ort. Neben dem Sinnspruch am Querbalken des Fachwerkhauses findet sich als weiterer Beleg die Jahreszahl 1351: Getreide mit mechanischer Hilfe zu Mehl vermahlen wird in Schöneck demnach seit weit mehr als sechseinhalb Jahrhunderten!

Getreide aus einem Umkreis von 100 Kilometern

In dem alten Gebäude hat Holger Frutig sein Büro. Während Bauer Gritsch wieder vom Hof fährt, erläutert der Geschäftsführer, wie wichtig der Kilianstädtermühle der regionale Bezug sei: „Wir kaufen das Getreide ‚rund um den eigenen Kirchturm‘, etwa 100 Kilometer um die Mühle.“ In Zeiten schrankenloser Globalisierung wahrhaftig eine regionale Arbeitsweise. Lediglich einen kleinen Teil des benötigten Getreides beschaffe man, so Frutig, aus dem Würzburger Raum; „um das Risiko zu minimieren, wenn etwa durch Wetterkapriolen Teile der hiesigen Ernte beschädigt würden.“ Doch in der Regel kommen Weizen und Roggen aus der Wetterau, dem Darmstädter Raum und ebenso aus Idstein oder Hünfelden, wo die Bäckerei Huth ja ihrerseits mit Fachgeschäften präsent ist. „90 Prozent plus“, fügt Holger Frutig an, stammten aus diesen Regionen Hessens.

Waren die Huths noch bis 1972 selber eine Müller-Familie, so sind sie heute auf einen zuverlässigen Mehllieferanten angewiesen. Denn die Limburger Bäckerei ordert bei jeder Bestellung in Schöneck 25 Tonnen Mehl, um die immer größere Nachfrage nach den hochwertigen Handwerksprodukten des echten Bäckers befriedigen zu können. Indes: Nicht allein die Menge ist entscheidend, sondern ebenso die Qualität der Mehle und ihre regionale Herkunft, da es zur Philosophie der Meisterbackstube am Schlag gehört, Rohstoffe wo immer möglich aus heimischen Quellen zu beziehen.

Die Walzenstühle, auf denen Roggen vermahlen wird. Fotos: Schmalenbach
Die Walzenstühle, auf denen Roggen vermahlen wird. Fotos: Schmalenbach

100.000 Tonnen Weizen und 10.000 Tonnen Roggen

Damit die Versorgungssicherheit gewährleistet ist, kaufen und verarbeiten die Müller in Schöneck im Jahr knapp 100.000 Tonnen Weizen und 10.000 Roggen, wie Holger Frutig ausführt. Gemahlen werde an sieben Tagen der Woche, rund um die Uhr in drei Schichten. „Es ist wichtig, sich zu bevorraten, denn der Markt wird zu über 65 Prozent von drei großen Konzernen beherrscht, und wir wollen Mehl in der benötigten Menge und Güte jederzeit für unsere Kunden verfügbar halten.“ Dazu stehen in Schöneck „Lagerzellen“, in denen die Kilianstädtermühle 3.900 Tonnen fertiges Mehl vorhalten kann. „Durch diese Silos können wir außerdem mindestens zwölf Tage durchschnittliche Lagerzeit garantieren“, hebt Diplom-Ingenieur Andreas Borger hervor, der die Bäckerei Huth im Außendienst betreut. Während dieser Zeit reife das Mehl ganz natürlich, bevor es zur Backstube gefahren wird – was sich hinsichtlich der Backeigenschaften positiv bemerkbar mache.

Qualität steht an erster Stelle

„Wir haben den typischen Handwerksbäcker als Abnehmer, daneben ebenso kleine Hofläden, die selbst backen, oder die ‚Döner-Bäcker‘, wie ich sie scherzhaft nenne, die ihre Fladenbrote aus unserem Mehl herstellen“, beschreibt Holger Frutig die Kundenstruktur. „Wir möchten als Familienunternehmen für den Bäcker da sein und auch für den Landwirt. Wenn ich mal ein Qualitätsproblem mit einem Bauern habe, muss ich doch sehen, dass ich in menschlich vernünftiger Weise miteinander klarkomme und im folgenden Jahr erneut gut zusammenarbeite.“ Qualität wird in Schöneck kompromisslos an erste Stelle gesetzt. Jeder Landwirt muss darum mit seiner Fracht zum „Probenstecher“ fahren, ehe er abladen darf: Mit der Vorrichtung an der Außenwand des mühleneigenen Labors wird vor der Annahme beispielsweise geprüft, dass keine Schimmelpilze im Getreide enthalten sind.

Die „Sichter“ tanzen umher, um das Mehl durch 21 gestapelte Siebe zu befördern, die die Schönecker Müller selbst bespannen.
Die „Sichter“ tanzen umher, um das Mehl durch 21 gestapelte Siebe zu befördern, die die Schönecker Müller selbst bespannen.

Der Müllerberuf ist komplex

Während der Verarbeitung wird ebenfalls wieder und wieder kontrolliert und – nun ja – ausgesiebt: In einem überaus aufwendigen Reinigungsprozess werden beispielsweise alle Bestandteile, die größer oder kleiner sind als das Grundgetreide, vom „Schwingsieb“ entfernt. Ein Steinausleser beseitigt schwerere Bestandteile wie Steine oder Glas, die im Getreide enthalten sein könnten. Eine „Trieur“ genannte Vorrichtung sucht nach Fremdstoffen, die sowohl kleiner oder größer sind als das normale Getreidekorn, also etwa Unkrautsämereien oder Mutterkorn. Mit Gewichtsvergleichen arbeitet dann zusätzlich der „Tischausleser“; er entdeckt alle leichteren oder schwereren Fremdkörper im Korn, bevor es vermahlen wird. „Am Ende läuft dann aus den Reinigungszellen sauberes Getreide in die Mühle“, sagt Dirk Groh. Er ist Obermüller im Bereich Qualität und teilt sich die Betriebsleitung mit einem Kollegen.

Im Labyrinth aus über 30 Silozellen, schier endlosen Rohrleitungen und Dutzenden Walzenstühlen kennt sich Groh natürlich beeindruckend detailreich aus. Und schnell wird eines klar: der Müllerberuf ist mittlerweile ausgesprochen komplex. Überall stehen Computer mit etlichen Bildschirmen, die bunte Diagramme zeigen. Unabhängig von der Reinigung wird mit dieser Technik zum Beispiel in den Lagerzellen Getreide verschiedener Herkunft „nach Rezept“ immer dann gemischt, wenn eine Huth-Bestellung eingeht, um eine gleichbleibende Mehlgüte garantieren zu können.

38 verschiedene Mehle

„Vor der Vermahlung wird der Weizen noch benetzt“, gibt Obermüller Groh einen kleinen Einblick. „Mit dem Wasser mache ich die Schale zäh und brüchiger und kann sie dadurch bei der Vermahlung besser vom Korn trennen.“ Elf Stunden bekomme das Getreide Zeit, das Wasser aufzunehmen und habe dann 16 Prozent Feuchtigkeit. Zwar passiert die eigentliche Vermahlung nach wie vor mittels Walzen, die unterschiedliche Riffelungen haben, von anfänglichen 3,7 Riffeln je Zentimeter bis hin zu zwölf bei feiner Vermahlung reicht die Bandbreite, erklärt der Obermüller. Doch es dauert eine ganze Weile, ehe das Mehl wirklich „fertig“ ist, denn es wird über 16 verschiedene „Mehlpassagen“ geschickt. „Dabei fallen 38 verschiedene Mehle an.“

Am Flüsschen Nidder gibt es in Schöneck schon seit mehr als 650 Jahren eine Mühle.
Am Flüsschen Nidder gibt es in Schöneck schon seit mehr als 650 Jahren eine Mühle.

Ganz oben im Mühlenturm

Der Obermüller steigt zügig eine Reihe Treppenstufen im Mühlenturm empor, bis ganz nach oben. „Nun sind wir auf dem Sichterboden“, erhellt er. „In den Sichtern liegen Stapel von je 21 Sieben.“ Die „Sichter“ sehen aus wie überdimensionale Schaltschränke oder Spinte, die unablässig „umhertanzen“. Durch die Bewegung werde das Mehl durch die Siebstapel befördert, erläutert Dirk Groh und fügt hinzu, dass die benutzten Siebe in der Kilianstädtermühle von Hand selber bespannt werden. Wie fein das Nylongewebe dafür ist! Kaum zu glauben, dass da noch etwas durchgeht. Unten, im Hof vor dem hochhausgleichen Mühlenturm, wird unterdessen fertiges Mehl in einen weiß-grünen Silowagen verladen, wie er regelmäßig auch bei der Bäckerei Huth vorfährt – voll mit hochwertigen Mehlen der Kilianstädtermühle, die aus dem in der Region geernteten Getreide von Karsten Gritsch und seinen Kollegen gemahlen wurden.

Quelle: Zeit für Brot